Sonntag, 18. Januar 2009

Zum Jubiläum: Literatur-Universum, Teil 1: Kafka

Jetzt, wo das Kafka-„Gedenkjahr“ vorbei ist, ist auch klar, dass dieses Jubiläum kaum bis gar nicht gefeiert wurde. Der Zufall wollte es, und ich war in einem Zeitraum in Prag, wo ich hätte mitbekommen müssen, inwiefern Veranstaltungen anberaumt sind, welche an Franz Kafka und seine genialen literarischen Fähigkeiten erinnern. Aber nichts wies auf seinen 125. Geburtstag hin!

Nicht, dass es mir nicht schon letztes Jahr aufgefallen wäre. Ich hatte insgeheim immer auf eine große Gedenkveranstaltung gehofft, aber Pustekuchen. Und nun ist das Jahr 2008 Geschichte und es ist nun in Stein gemeißelt, dass Franz Kafka offenbar in Prag und auch in Österreich ignoriert wurde. Vielleicht gab es da oder dort eine winzige Veranstaltung, die mir entgangen ist, doch irgendwie kann ich das nicht glauben…

Ich schrieb mal von einer Veranstaltung, bei der Klaus Wagenbach eingeladen worden war. Er las aus seiner Jugendbiographie von Franz Kafka. Es war völlig absurd, zu sehen, wie sich eine Menge Leute von dieser Lesung abhalten ließen, nur weil kurz zuvor ein Gewitter über Wien niedergegangen war. Die Liste mit den Eingeladenen sah ich, weil mein Name von einem Angestellten der Buchhandlung abgehakt wurde. Und viele Häkchen gab es an diesem Abend nicht.

Franz Kafka schrieb nicht nur über sich selbst, sondern er beschrieb die Menschen, die ihm tagtäglich auf der Straße begegneten. Er machte aus winzigen Beobachtungen große Literatur, beschäftigte sich mit kleinen Eigenheiten von Menschen, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte. Er wusste gleichermaßen, dass es ein Desaster für ihn war, auch einer eklatanten Selbstbeobachtung ausgeliefert zu sein. Doch er ließ nicht davon ab, war zu sich in einer Weise ehrlich, sodass ihm oft vor der Fratze schauerte, die er sich vor das Gesicht hielt. Franz Kafka opferte sich für die Literatur auf, und die Literatur versperrte ihm weitgehend den Zugang zum Leben, welches keine Begleiterscheinung des Schreibens sein darf.

Ich hatte von Franz Kafka und seinen Werken keine Ahnung, als mich ein Fräulein während einer Deutsch-Stunde fragte, was ich vom „Urteil“ hielte. Ich war knapp 19 Jahre alt, und hatte eben erst begonnen, das Schreiben als Möglichkeit einer Selbsttherapie zu entdecken. Da knallte mir das Fräulein diese Geschichte um die Ohren, und fragte mich um mein „Urteil“. Ja, und ich tat so, als würde ich die Geschichte kennen… Als Literatur-Kenner und besonders guter Schüler – wenigstens im Unterrichtsfach Deutsch – war ich nicht verrufen, aber doch dazu verdammt, weit über den Horizont meiner damaligen literarischen Erkenntnisse und Erfahrungen hinaus eine gewisse Qualität zu suggerieren, die sich in meinen Deutsch-Schularbeiten manifestierte. Nein, ich wollte das Fräulein nicht enttäuschen, und beantwortete ihre Frage nach dem Sinn dieser Erzählung damit, dass es unmöglich sei, diese Sprache, diese Erzähltechnik, diese Hintergründigkeit, diese Geheimnisse, zu decodieren.

Es sollte dann viele Jahre dauern, bis ich dessen gewahr wurde, dass meine „Notlüge“ von anno dazumal durchaus den Nagel auf den Kopf getroffen haben mochte, denn ich musste einige Sekundärliteratur Franz Kafka betreffend lesen, ehe ich zumindest in Ansätzen die Welt, an der er sich die Zähne ausbiss, ein wenig verstehen konnte. Damit ist freilich nicht die „objektiv sichtbare“ Welt gemeint, sondern seine Welt, wie er sie im konstruktivistischen Sinne, doch genau so introspektiv wahrnahm.

Das Fräulein ermöglichte also meinen Eintritt in das Kafka-Universum. Sie schenkte mir sozusagen eine Eintrittskarte, und mittlerweile habe ich den freien Eintritt zu nutzen gewusst, und falls mir das Fräulein mal auf der Straße begegnen sollte, werde ich ihr erzählen, was ihre kleine Frage nach dem „Urteil“ in mir ausgelöst hat.

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